Polizeifotos von Tatverdächtigen sind in den USA allgegenwärtig. Selbst diejenigen, die ihre Strafe verbüsst haben oder freigesprochen wurden, werden von den Aufnahmen verfolgt – und damit erpresst. Doch nun regt sich Widerstand.
Steve Przybilla
Thomas T. war mit seinem Leben zufrieden. Als Chef der Schulaufsicht von Kenilworth, einem Bezirk im US-Teilstaat New Jersey, hatte sich der 42-Jährige einen exzellenten Ruf erarbeitet. Sein Jahresgehalt von knapp 150000 Dollar lieferte ihm und seiner Familie ein gutes Auskommen. «Ich habe meinen Job geliebt», erzählte T. einer amerikanischen Zeitung in einem der raren Interviews, die er in den vergangenen Monaten gegeben hat. Denn T. ist heute kein leitender Beamter mehr. Er ist ein Mann, der alles verloren hat: seinen guten Ruf, seinen Job, sogar seine Würde.
Verantwortlich dafür ist, auch das gehört zur Wahrheit, zum Teil er selbst. Während seiner Zeit als Behördenchef joggte T. regelmässig auf dem Sportplatz einer nahe gelegenen Highschool. Niemand ahnte, dass ihn bei seinen Runden regelmässig der sogenannte Läuferdurchfall überkam, offenbar so akut, dass er es nicht mehr bis auf die Toilette schaffte. Im Mai 2018 wurde T. dabei erwischt, wie er seine Notdurft hinter der Zuschauertribüne verrichtete.
Juristisch hatte der Fauxpas für ihn fast keine Folgen: Nach kurzer Zeit in Polizeigewahrsam und mit einem Bussgeld von 500 Dollar war die Sache erledigt. Doch der eigentliche Horror fing damit erst an, denn die Polizei hatte mehrere «mug shots» des Mannes angefertigt. Unter dem Begriff (wörtlich: «Visagen-Aufnahmen») versteht man Fotos, die bei Verhaftungen gemacht werden. Im Fall von T. gelangten die Bilder ins Internet und lösten dort eine Welle von Erniedrigung und Häme aus. Landesweit spotteten Medien über den «Flitzer-Beamten» aus New Jersey; in der Schule wurden seine beiden Kinder gehänselt. Am Ende legte T. sein Amt freiwillig nieder.
Privatsphäre ist nichts wert
Ohne die rasante Verbreitung der «mug shots» wäre dem Betroffenen wohl vieles erspart geblieben. Und nicht nur ihm: Millionen von Amerikanern stehen mit ihren Polizeifotos im Internet. Deren Veröffentlichung hat in den USA eine lange Tradition, weil das Informationsinteresse der Bevölkerung stärker gewichtet wird als die Privatsphäre von Verdächtigen. Ob jemand wirklich schuldig ist, verraten die Bilder hingegen nicht. Oft genug werden Anschuldigungen vor Gericht entkräftet, oder Verurteilte haben ihre Strafe längst abgesessen, während ihre «mug shots» weiterhin abrufbar sind. Mit einer simplen Google-Suche können Freunde, Nachbarn oder Arbeitgeber sie finden – ein Erbe, das Existenzen zerstören kann.
Doch nicht nur die Polizei und traditionelle Medien spielen beim Ausschlachten der «mug shots» eine wichtige Rolle. Während die Strafverfolgungsbehörden die Fotos von ihren Websites nehmen, sobald jemand seine Strafe verbüsst hat oder freigesprochen wurde, sind kommerzielle Internetportale an diese Vorgaben nicht gebunden. So gibt es in den Vereinigten Staaten unzählige Websites, die nichts anderes machen, als «mug shots» zu veröffentlichen. Damit diese wieder verschwinden, müssen Betroffene hohe Gebühren bezahlen. Meist werden mehrere hundert, manchmal sogar über tausend Dollar fällig, ohne Garantie, dass die Fotos danach nicht doch wieder auf einer anderen Seite auftauchen.
Die Partnerseiten werben mit dem Versprechen, den «ruinierten Ruf» von Personen wiederherzustellen – gegen eine saftige Gebühr, versteht sich.
Obwohl es bei dieser Masche eindeutig ums Geld geht, ist ihr rein rechtlich nur schwer beizukommen. Die Veröffentlichung von «mug shots» fällt in den USA unter die Pressefreiheit, auf die sich die Internetportale auch gerne berufen. Gleich auf der Startseite von Mugshots.com, einer der bekanntesten Websites, beteuern die Betreiber ihren Status als Nachrichtendienst. «Indem wir die Öffentlichkeit über Verhaftungen informieren, nehmen wir die Behörden in die Pflicht», heisst es dort. Nur so sei die «humane Behandlung» von Verhafteten gewährleistet.
Dass die Website über einen Partnerdienst Gebühren verlangt, um Fotos zu löschen, steht dort freilich nicht. Vielmehr präsentieren sich diverse Online-Dienste als unabhängige Anbieter, obwohl es als sehr wahrscheinlich gilt, dass sie mit den «mug shot»-Websites unter einer Decke stecken. Die Partnerseiten werben mit dem Versprechen, den «ruinierten Ruf» von Personen lückenlos wiederherzustellen und online gestellte Polizeifotos innerhalb weniger Tage zu löschen – gegen eine saftige Gebühr, versteht sich.
Demokratin kämpft für Gesetz
An genau diesem Hebel wollen einige Gliedstaaten nun ansetzen. Statt die Veröffentlichung der Fotos selbst zu verbieten, stellen sie die horrenden Löschgebühren unter Strafe. So trat in New Jersey im vergangenen Jahr ein Gesetz in Kraft, das solche Praktiken als Erpressung wertet. «Wir mussten diese Ausbeutung einfach stoppen», sagt Teresa Ruiz, eine demokratische Senatorin, die massgeblich für das neue Gesetz gekämpft hat. Sie selbst habe lange Zeit gar nichts von der Problematik gewusst, sagt Ruiz. «Dann hat mir ein Wähler eine E-Mail geschrieben. Er hatte alles richtig gemacht, war längst wieder frei und wurde trotzdem weiterhin an den Pranger gestellt.»
Laut dem neuen Gesetz müssen die Websites die Fotos kostenfrei löschen, wenn jemand vor Gericht freigesprochen wurde oder seine Strafe verbüsst hat. Oft sind die Besitzer der Websites jedoch nur schwer zu ermitteln. Auch werden die Vorgaben offenbar selbst von der Polizei nicht immer eingehalten. So dürfen in New Jersey keine «mug shots» von Personen veröffentlicht werden, die wegen eines geringfügigen Delikts verhaftet wurden. Warum es im Fall des Schulaufsichtschefs trotzdem geschah, ist unklar. «Wir wissen nicht, wie gut unser Ansatz funktioniert», räumt die Senatorin Teresa Ruiz ein. «Bis jetzt haben wir das Gesetz noch nicht evaluiert.»
«Die Bürger haben ein Recht darauf, zu wissen, wer in ihrer Umgebung eine Gefahr darstellt», heisst es im Klappentext. «Aber auch Verurteilte haben Rechte.»
Auch in anderen Teilen des Landes ist die «mug shot»-Industrie inzwischen ein Thema. Laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins «Vice» haben 31 der 50 amerikanischen Teilstaaten inzwischen eigene Gesetze dazu erlassen, darunter Kalifornien, Florida und Texas. «Die einfachste Lösung wäre es, der Polizei die Veröffentlichung gleich ganz zu verbieten», meint James Jacobs, ein renommierter Jura-Professor an der New York University. «Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Fotos überhaupt zu publizieren.»
Jacobs beschäftigt sich schon seit längerem mit den Online-Prangern. In seinem Buch «The Eternal Criminal Record» geht der Experte von mindestens 60 Millionen Amerikanern aus, deren Strafregister im Internet abrufbar ist. «Die Bürger haben ein Recht darauf, zu wissen, wer in ihrer Umgebung eine Gefahr darstellt», heisst es im Klappentext. «Aber auch Verurteilte haben Rechte.» Dass Menschen durch digitale Datenbanken lebenslang bestraft werden, hält Jacobs für unverhältnismässig. Und offenbar nicht nur er: In New York ist die Polizei dazu übergegangen, keine «mug shots» mehr zu veröffentlichen, es sei denn, es handelt sich um Fahndungsfotos.
Sie stehlen einem die Identität
Doch gewonnen ist der Kampf gegen die «mug shot»-Industrie damit noch nicht. Weiterhin entziehen sich viele Websites der staatlichen Regulierung; oft ist nicht einmal klar, wem sie überhaupt gehören. Umso spektakulärer wirkte im Mai 2018 die Verhaftung von vier Amerikanern, die Mugshots.com betreiben sollen. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft: Erpressung, Identitätsdiebstahl, Geldwäsche. Fast 6000 Personen seien ihrer Masche zum Opfer gefallen.
Rund zwei Millionen Dollar sollen die mutmasslichen Website-Betreiber über einen Zeitraum von drei Jahren als «Entfernungsgebühren» eingenommen haben, heisst es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Die beiden Hauptangeklagten sind 44 beziehungsweise 60 Jahre alt und leben in Florida und Connecticut. Ihnen wird zusätzlich vorgeworfen, ihre Identität verschleiert und das eingenommene Geld auf Offshore-Konten verschoben zu haben. Sie selbst bezeichnen sich hingegen lediglich als «Webentwickler».
Heute ist Mugshots.com noch immer online, genau wie viele andere Websites, die ihr Geld mit dem Online-Pranger verdienen. Doch zumindest ist nun erstmals klar, wer hinter dem dubiosen Geschäftsmodell steckt: Von zwei der vier Verhafteten stellte die Polizei umgehend die «mug shots» ins Netz. Auch die Plattform selbst bleibt ihren Prinzipien treu. Thomas K., der Betreiber von Mugshots.com, ist dort ebenfalls in Text und Bild zu finden: verhaftet am 16.Mai 2018 in Florida, ausgeliefert nach Kalifornien, freigelassen auf Kaution. Dazu ein Zitat aus der Anklageschrift: «Das ist Ausbeute, schlicht und einfach.»
Marie-Astrid Langer
Claudia Schwartz